TL;DR
Heute ist mir doch etwas passiert, was ich mir in dieser Form nicht hätte träumen lassen. Nein, ich hätte nicht erwartet, daß mir jemand folgendes schreibt:
“Länge ist nicht gleich fundiert – ohne das jetzt komplett gelesen zu haben.”
Daher passe ich an dieser Stelle die Überschrift meines Textes an:
Länge ist nicht gleich fundiert
Zu dieser Aussage kam es durch meinen Gegenüber, nachdem wir uns über einen dieser besonders sicheren Messenger über ein komplexes Thema ausgetauscht hatten und ich mich genötigt sah, seinen letzten Kommentar ausführlich zu sezieren. Ich bin völlig platt ob der Tatsache, daß jemand die schiere Länge einer Stellungnahme als Argument gegen den Text selber verwendet. Das ist mir noch nie passiert, jedenfalls nicht in dieser Form und nicht in dieser Direktheit.
Im Grunde gebe ich mit einem längeren Text meinem Gesprächspartner doch viel mehr Material an die Hand, mit dem er spielen kann, als wenn ich eine kurze Antwort hinrotze. Und jetzt gereicht es mir zum Nachteil, DASS ich eine längere Antwort verfaßt habe? Das ist doch unglaublich!
Und dabei fiel mir dann das Meme TL;DR ein: Was für eine kommunikative Bankrotterklärung ist das eigentlich?
Auf welchem Niveau wollen wir zukünftig diskutieren? Ist der Grund hinter TL;DR vielleicht genau der, der auch zu diesen polarisierenden Scheindebatten geführt hat, die unseren Alltag seit Jahren bestimmen? Die Tatsache, daß ein einziger vermeintlicher Fehler die ganze Person abwertet und ins Abseits stellt?
Wenn wir über das Klimaproblem reden und einer sagt: “Nur Atomkraft kann uns da raushelfen!”, dann ist der gleich unten durch, oder? Wenn einer sagt: “Die Flüchtlinge sind mir nicht egal, es kann nicht sein, daß wir die ersaufen lassen!”, dann wird er gleich aufgefordert, sie in seinem Haus wohnen zu lassen? Und wenn er es täte, würde man es abfackeln?
Diese Unversöhnlichkeit, diese Kompromißlosigkeit (siehe Kampfbegriff Alternativlosigkeit), diese letztliche UNFÄHIGKEIT, andere Meinungen mal auszuhalten und mit der kognitiven Dissonanz zu leben, das ist so erbärmlich und so eine, ich wiederhole mich, Bankrotterklärung…
Ja, TL;DR… Deswegen wird der Herr der Ringe ja auch angeschaut, aber nicht mehr gelesen. Die Eile, mit der Bücher verfilmt werden, spricht ja für sich allein genommen schon Bände. Und ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der das Dschungelbuch gelesen hat. Alle glaubten, die Geschichte habe sich die Walt-Disney-Corporation ausgedacht. Ja, und Käse ist ein synthetisches Produkt der Chemieindustrie (Ergebnis einer Umfrage unter New Yorkern, ich weiß nicht mehr, wann das war…).
Aber es ist schon auffällig, daß die Bereitschaft, kognitive Dissonanzen auszuhalten, mittlerweile fast bei Null angekommen ist. Mit viel Mühe und Not (oder ersatzweise einem passenden Maß an Ignoranz) bastelt sich jeder ein Weltbild, mit dem er leben kann. Erdreistet sich dann einer, das zu kritisieren oder gar korrigieren zu wollen, wird er mit der Mistgabel bekämpft. Und zwar auf der Stelle, noch bevor mögliche Mißverständnisse hätten aus dem Weg geräumt werden können.
Manche brabbeln in den Talkshows ja ohnehin nur noch unverständliches Zeug zusammen, dem jede Stringenz oder Kontinuität oder Logik fehlt. Da nimmt man dann nur noch den Tonfall wahr, auf den Inhalt ist geschissen. (Und oft quatscht ja jeder munter dem anderen rein, sodaß nicht mal mehr der Moderator das Chaos bändigen kann.)
Wenn selbst Wissenschaftler beim Schreiben von Büchern jegliche Sorgfaltspflicht und jeglichen Qualitätsmaßstab beiseite lassen, Beispiel: Die Vierte Gewalt, Precht/Welzer, was soll der gemeine Bürger denn dann noch für Maßstäbe an seine Rede legen? Da gibt es dann oft kein Halten mehr auf dem abschüssigen Weg in Haßreden und irrsinnige Polemiken…
Wir halten’s einfach nicht mehr aus! Uns selber nicht, die Welt nicht, die Meinungen der anderen nicht! Am liebsten wären wir alle ganz alleine auf der Welt. Hm, okay, naja, bis die Heizung verreckt oder das Auto nicht mehr angeht. Da ist es dann doch ganz nett, wenn man einen kennt, der’s richten kann. Vielleicht.
Und vielleicht, wo wir schon beim Vielleicht sind, vielleicht haben wir diese Phase in zehn, zwanzig Jahren hinter uns gelassen und haben neue Felder des Wahnsinns erschlossen. Viel Spaß dabei, ich werde wohl nicht mehr dabeisein…
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