(Wer nicht weiß, was das ist, kann es hier nachsehen: https://getfreewrite.com/)
Ich frage mich wirklich, warum sich Konsumenten von manchen Angeboten förmlich hypnotisieren lassen. Über 500 Euro für eine wahrscheinlich sehr gute Tastatur, die wahrscheinlich an einen Mikrocomputer wie einen Raspberry angeschlossen ist und ein mickriges eInk-Display besitzt? Und das ganze dann gerechtfertigt durch das Versprechen, ablenkungsfrei zu sein?
Nehmen wir mal an, ich sei Schriftsteller. Nehmen wir weiter an, ich wolle nicht abgelenkt werden bei der Arbeit. Dann kann man auf einem modernen Computer sämtliche Systembenachrichtigungen und Benachrichtigungen durch irgendwelche Software ganz simpel und schlicht abschalten. Wenn einem jetzt die Software, in die man seine Texte reinknüppelt, zu viel Ablenkung bietet in Form vieler Optionen, Fluten von Funktionsicons und ähnlichem, ja, dann nehme ich eine andere Software oder passe mir die vorhandene einfach an. Oder nehme eine, die sich anpassen läßt.
Nur mal als Beispiel: Ghostwrite (eine kostenlose open-source Software) läßt dies zu und bietet mit Druck auf F11 einen Full-Screen-Mode an, in dem man nichts anderes mehr sieht als seinen Text und eine unauffällige, gedimmte Fußzeile. Das ist doch distraction free! Und es kostet mich nichts, keinen einzigen Penny, mir das einzurichten und zu nutzen. (Und auch Ghostwrite hat eine nett gestaltete Homepage, auf der man sich anschauen kann, was die Philosophie hinter dem Programm ist: https://ghostwriter.kde.org/)
Genau das habe ich eben gemacht: Ghostwrite heruntergeladen und aufgerufen, und ich brauchte ein Viertelstunde um zu verstehen, wozu man Ghostwrite verwenden kann und sollte. Und habe damit prompt diesen Text hier verfaßt.
Sogar den Hemingway-Modus gibt es (mit dessen Image Freewrite spielt), Hemingway scheint ja DER Autor schlechthin zu sein, dem alle nacheifern. Warum eigentlich? Was ist das besondere an Hemingway, das ihn zu einem derart populären Vorbild macht? Seine Rohheit? Seine männliche Kraft oder watt? Bringen sich am Ende auch alle um?
Wollen wir nicht hoffen, oder?
Wie mißt man eigentlich den Gewinn an Produktivität? Es gibt ja Behauptungen, daß z. B. Freewrite die Produktivität erhöht. Was genau heißt das? Nur die Zahl der pro Tag geschriebenen Wörter oder Buchstaben zu vergleichen, ist wohl kaum zielführend, es muß ja auch die Qualität des Outputs betrachtet werden. Vielleicht reizt ein Werkzeug auch nur dazu, eine Logorrhoe zu entwickeln, bloß weil das Werkzeug haptisch und optisch einen Reiz ausübt, es zu benutzen. Könnte ja sein, nicht wahr? Aber nur durch die Benutzung wird nicht unbedingt ein qualitativ befriedigender Output erzeugt.
Ich gehe jetzt mal auf Recherchereise… Heraus kam dabei das folgende:
Freewrite sagt: “Maximize your productivity by writing 2X more and reach writing flow quickly.” Wo nehmen die das her? Es gibt keinen einzigen handfesten Beleg, nur angebliche Aussagen angeblicher Schriftsteller und einen Hinweis auf ein Buch über Deep Work, was auch immer das sein mag.
Wir reden hier also über ein Produktversprechen, das wolkiger und unklarer kaum sein kann. Das bemerkenswerte daran ist, mit wie wenig substantieller Aussage man Menschen dazu bringen kann, etwas für plausibel zu halten und dann Geld dafür auszugeben. Z. B. die Aussage:
Say Goodbye to Writer’s Block.
Ja, mach’ ich! – Was natürlich suggeriert werden soll: Mit diesem Tool ist die Schreibblockade für dich Geschichte! Wer wollte das nicht? Und an dieser Stelle ohne weitere Reflexion dann zu sagen: “Jawohl, das ist meine Chance, das bestelle ich jetzt!”, wäre wohl eher ein Fehler, denn wenn dieses Ding tatsächlich Leute von Schreibblockaden befreien sollte, dann sicherlich nicht jeden, und mit Sicherheit nur einige wenige, denen letztlich ein nur kleiner Motivationsschub genügt, um wieder in die Gänge zu kommen.
Fazit
Ich werde dieses Gerät sicher nicht kaufen. Gründe? Siehe oben. Einer reicht: Ghostwrite und ein billiges, kleines, nettes Notebook, gerne uralt und 3rd hand. Unter Linux, versteht sich. Und schon schreiben Sie drauflos wie weiland Ernest. Versprochen!
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