Vor einigen Wochen befanden wir uns am Ufer eines Flusses
unweit der nächsten Ansiedlung, eines kleinen Dorfs in der
Nähe von Gaildorf, aber nur cirka fünfzig bis hundert Meter
von einer kleinen Fabrikanlage entfernt. Direkt neben dem
Gelände fließt der Kocher, er hat hier eine Breite von zehn
bis fünfzehn Metern.
Nur wenige Besucher und Touristen wären in diesen Weg
eingebogen in der Hoffnung, dort in Ruhe spazierengehen zu
können und ein wenig die Natur zu genießen. Ein solcher
Industriebetrieb schreckt einfach ab. Aber wenn man ein paar
Meter weiterfährt, kann man unter Bäumen parken und ist direkt
am Ufer des Flusses.
Wir bauten also unsere Fotostative auf. Unsere
Erfahrungen mit Naturfotografie haben uns nämlich gelehrt, daß
Unverhofftes die Regel ist, wenn man sich erst einmal auf
einen Ort eingelassen hat.
Unser Auto stand ein Stück entfernt, und wir hatten
gesehen, daß am Ufer ein Schlauch lag, mit dem wohl Flußwasser
hochgepumpt werden konnte. Dann sahen wir einen Traktor mit
Tankanhänger vorbeifahren, der schließlich vor unserem
Parkplatz anhielt. Ich wollte mit meinem Fahrzeug niemanden
behindern, also ging ich schnell hin.
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Der Bauer pumpte Wasser aus dem Kocher in seinen
Tankanhänger. Ein mächtiges Stück Schlauch, vielleicht drei
oder vier Meter lang, lag auf der Uferböschung und endete unten
im Wasser. Er hatte es hochgezerrt, um es an seinen Tank
anzuschließen, dann startete er die Pumpe. In diesem Moment
kam ich dazu. Eigentlich war ja schon alles klar, aber ich
fragte dann doch, ob mein Auto ihm im Wege stand. Er verneinte
das und lachte, er komme schon klar. Dann fragte er, was wir
denn hier machen würden, wahrscheinlich hielten sich hier
normalerweise keine Fremden auf. Ich erklärte ihm, daß wir
hofften, Eisvögel fotografieren zu können.
“Was denn? Hier gibt es Eisvögel?” – “Ja”, sagte ich, “in
der Tat! Wir haben schon einige gesehen, man hört sie auf ihre
typische Weise rufen, so ein hohes Pfeifen…” und versuchte,
es nachzuahmen, was aber sofort Hustenreiz auslöste.
“Das wußte ich gar nicht, daß es die hier gibt. Das ist
ja so ein schöner Vogel! – Ach, schauen Sie mal, da drüben…”
Und wir sahen beide ein pelziges Tier am anderen Ufer
entlang schwimmen.
“Das ist ein Bisam!” sagte ich.
“Na, Sie kennen sich ja aus”, lachte er.
“Naja, aber wenn Sie den Eisvogel auch mal sehen wollen,
dann setzen Sie sich einfach mal eine halbe Stunde hier ans
Ufer, dann kommt sicher einer vorbei!”
Dann wünschten wir uns noch einen schönen Tag, und ich
ging gutgelaunt an unseren Lagerplatz zurück.
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Der Bauer gab mir dann doch zu denken: Wenn jemand die
Natur und die Landschaft, Fauna und Flora schon von Berufs
wegen kennen sollte, dann doch ein Landwirt. Aber er wußte
tatsächlich nichts von den Eisvögeln, die dort lebten.
Meine Erklärung dafür ist, daß er nicht die Zeit hat,
sich einmal nichts tuend an den Fluß zu begeben. Wobei nichts
tun nicht richtig ist: Bewußt wahrnehmen und sich gleichzeitig
nicht einzumischen, ist ein aktiver Zustand.
Wenn ich an einem Flußufer sitze, tue ich nicht nichts.
Ich lasse eine Menge auf mich einfließen, Gefühle,
Vorstellungen, Bilder, Filme, Musik… In mir beginnen die
Dinge dann genauso zu fließen wie der Fluß vor mir. Und so,
wie sich dann manche Dinge, die den Fluß hinuntertreiben, am
Geäst des Ufers verhaken, so bleiben in meinem Gedankenstrom
dann auch Dinge hängen, die ich genauer betrachte, und
entweder behalte ich sie oder ich werfe sie wieder in den Fluß
meiner Assoziationen und Gedankengänge.
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Unser Leben ist oft bestimmt von Informationen, die aus
verschiedenen Bereichen stammen. Das sind nicht beliebig
viele, sondern eine überschaubare Zahl. Sie erreichen uns
einmal durch Kommunikation mit Menschen aus unserem privaten
Umfeld, dann durch Kommunikation im beruflichen Umgang, und
schließlich zu einem ganz erheblichen Teil aus Medien. Da
wären zu nennen die klassischen Printmedien, Zeitungen und
Magazine, das Fernsehen, öffentlich-rechtlich wie privat, und
dann die kaum überschaubare Zahl an Kommunikationsangeboten
über das Netz, seien es soziale Medien, Blogs, Portale,
Plattformen oder sonstiges.
Meine Vermutung ist, daß für viele Menschen diese Masse
an Informationen ihr Weltbild stärker prägt als die direkte,
konkrete Wahrnehmung der Welt mit ihren unbewaffneten Sinnen,
sprich, Sinnen, denen kein Medium, kein Bildschirm, kein
Lautsprecher vorgeschaltet ist.
Wir benötigen wieder mehr Souveränität in unserer eigenen
Wahrnehmung der Welt, anstatt uns andauernd von anderen
erzählen zu lassen, wie die Welt (aus deren Sicht) aussieht.
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Und während man also sitzt und wahrnimmt, ganz allein und
ganz ohne Fremdeinwirkung, erlebt man neben den eigenen
inneren Vorstellungswelten auch das, was sich draußen, um
einen herum, so tut: Was die Tiere machen, die Vögel, die
Fische, vielleicht sieht man Krebse am Uferrand oder eine
Ringelnatter schwimmt von einem Ufer ans andere… Um solche
Beobachtungen zu machen, muß man verweilen.
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Ein guter Grund zu verweilen ist z. B. das Fotografieren.
Man fährt nicht an den Fluß, läuft hundert Meter, knipst den
Eisvogel und geht wieder. Das funktioniert nicht. Meistens
sehen wir Menschen, die den Weg entlangspazieren, mit dem Rad
fahren oder joggen. Das kann man alles machen, klar. Aber, nur
mal so als Vorschlag, wie wäre es mit Hinsetzen?
Für ganz wenig Geld bekommt man Dreibeinhocker, wie Jäger
sie gerne benutzen. Damit kann man sich ans Ufer setzen und
einfach mal auf die Natur hören. Hören, ob Vögel da sind.
Hören, ob Mäuse im Gras rascheln. Hören, ob etwas ins Wasser
fällt.
Und natürlich ist das Fotografieren unser Ding, aber es
spielt keine Rolle, ob man jetzt genau das macht, oder ob man
einen Notizblock dabei hat und seine Erlebnisse beschreibt, ob
man Zeichnungen und Skizzen anfertigt. Es geht darum,
Anregungen aufzunehmen und in irgendeiner Form festzuhalten.
Wenn man den Eisvogel rufen hört, dauert es mitunter
nicht lange, und er fliegt vorbei. In der Regel fliegt er
schnell, pfeilschnell. Man sieht dann nur einen orangefarbenen
Fleck vorbeihuschen. Aber wenn man Glück hat, setzt er sich
direkt gegenüber auf einen freistehenden Ast über dem Wasser.
Das mag er: Freie Sicht auf die Wasseroberfläche, und
sobald er einen Fisch sieht, stürzt er sich wie eine Rakete
hinab, taucht mit einem Platscher unter und kommt Sekunden
später wieder aus dem Wasser heraus, entweder mit oder ohne
Fisch.
Früher dachte ich, Eisvögel wären derart selten, daß man
sie bestenfalls tief in unzugänglichen Naturschutzgebieten
finden würde. Aber wir haben sie schon an den
unterschiedlichsten, problemlos öffentlich erreichbaren
Plätzen beobachtet: In Bingen am Rhein, am Kocher, an alten
Neckararmen, am Altrhein bei Ketsch. Und in der Nähe von
Ingolstadt an der Donau. Und in Sandhausen und und und…
Ich glaube, daß viele Menschen annehmen, den Eisvogel
könnten sie nur in der Bierwerbung bewundern. Aber das stimmt
nicht: Wenn man sich in die freie Natur an einen Wasserlauf
begibt, wird man feststellen, ob es dort Eisvögel gibt oder
nicht. Das gelingt allerdings nur, wenn man losläßt. Deswegen
habe ich den Begriff Geduld nicht ins Spiel gebracht, bis
hierher jedenfalls nicht. Denn Geduld… Jaja, die hat nicht
jeder, heißt es dann. Aber es geht nicht um Geduld. Es geht
darum, sich einmal für etwas anderes zu öffnen als das
tägliche Einerlei, um die großen Sorgen, die man ohnehin hat.
Diese wird man nicht so schnell los. Aber man kann etwas dafür
tun, mit ihnen besser zurechtzukommen. Nämlich indem man
Energie aus der Natur aufnimmt, direkt über seine Sinne, und
mal auf etwas anderes hört als die Alltagsgeräusche.
So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Man hat die
Chance, wirklich spannende Dinge zu erleben, indem man dem
Leben zuschaut, und wieder zu sich selber zu finden, gerade
indem man Einflüsse von außen zuläßt.
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Natürlich steht der Eisvogel stellvertretend für eine
reiche Auswahl anderer Naturphänomene, für die es sich lohnt,
auf Pirsch zu gehen. Nicht ab-, sondern umzuschalten in einen
anderen Erlebnismodus, ist für mich das Entscheidende. Man
erholt sich schließlich nicht dadurch, daß man einfach nichts
tut, sondern das Richtige, etwas für sich selbst nämlich,
etwas, das einem Anregungen und Energien zurückgibt.